Neues anfangen – Warum? Wohin?: Earnest & Algernon goes fremd

igenda FACHMAGAZIN
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21.03.2014

Earnest: Algernon, mein allerliebster Algernon, ich traue mich kaum, dich zu fragen, doch wie so oft benötige ich deine Hilfe. Mein Leben, es kommt mir so leer, so eintönig und unerfüllt vor. Um mich herum setzen alle die tollsten und kühnsten Ideen um und ich habe das Gefühl, dass jeder zweite, dem ich begegne, im letzten Jahr irgendein bahnbrechendes Start-Up gegründet hat. Die übrigen reisen von einem spannenden Projekt zum nächsten und sind in sämtlichen Metropolen dieser Welt unterwegs. Wie kann es sein, oh Algernon, dass mein Leben im Gegensatz zu ihrem geprägt ist von denselben Dingen, denselben Leuten, denselben Themen, Tag für Tag. Dieser nutz- und ziellose Alltagstrott – ich habe es satt, Algernon, und ich habe mich entschlossen, daran etwas zu ändern.

Algernon: So so, mein lieber Freund, und an was hast du da gedacht?

Earnest: Genau das möchte ich ja von dir wissen! Was ich brauche ist ein Neuanfang. Eine originelle Idee, die Schwung und Abwechslung bringt und mir endlich den Weg zum Erfolg und zu einem glücklichen Leben öffnet.

Algernon: Nun, fast würde ich sagen nichts leichter als das! Aber was du erst einmal brauchst, mein lieber Freund, ist eine Vorstellung davon, was Erfolg und Glück für dich bedeuten.

Earnest: Ja, ja... (Verdreht die Augen) Nun stell nicht wieder alles auf diese Grundsatzebene. Ständig ist die Rede von Innovationspotenzialen in allen nur denkbaren Bereichen und an Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung scheint es auch nicht gerade zu mangeln. Du solltest dich lieber nützlich machen und mir dabei helfen, eine vernünftige Idee zu finden.

Algernon: Ob du es glaubst oder nicht: genau das tue ich. (Schmunzelt verschmitzt) Ich fürchte nur, du verwechselst hier zwei Dinge. Eine Idee zu finden, die die Weichen für den Neuanfang stellt, den du dir wünschst, ist womöglich einfacher, als du denkst. Aber damit wirklich erfolgreich und auch glücklich zu werden – das ist eine ganz andere Sache.

Earnest: Ach Algernon, für solche Spielchen fehlt mir wirklich die Zeit… (Wird ungeduldig)

Algernon: … Womit wir auch gleich beim Kern deines Problems wären.

Earnest: Wie meinst du das nun schon wieder?

Algernon: Bevor du dich dazu entschließt, dein komplettes Leben umzukrempeln, solltest du dir erst einmal die Zeit nehmen, zu überlegen, warum du das tun willst. Von Glück und Erfolg sprichst du, diesen abstrakten und nahezu beliebig füllbaren Begriffen. Aber sind all die Gründer, von denen du mir erzählst, die Leute, die von Land zu Land und von Projekt zu Projekt hetzen, wirklich dein Maßstab für Erfolg und für Glück?

Earnest: Nun ja, so schlecht können sie als Maßstab nicht sein. Die meisten von Ihnen sind nicht einmal halb so alt wie ich, aber mehr erreicht haben sie allemal; und all die Dinge, die zu einem schönen Leben dazu gehören, können sie sich auch schon seit Jahren leisten.

Algernon: Ihr Tempo ist oftmals beeindruckend, in dem Punkt gebe ich dir Recht. (Seufzt mitleidig) Tatsächlich scheint das bei vielen die Maxime zu sein: Rennen, rennen, rennen, schneller sein als alle anderen. Aber die wenigsten fragen sich, wohin sie eigentlich rennen. Etwas Neues in die Welt bringen, Neues ausprobieren, Neues (er-)leben. Allzu oft geschieht das aber einzig und allein um des Neuen selbst willen und in dieser Hinsicht bleibt letztlich doch immer wieder alles beim Alten.

Earnest: Ach Algernon, in was für eine Lage bringst du mich nur! Wenn alles Neue im Grunde auch nur wieder mehr und wieder mehr des Selben ist... – wie soll mir ein Neuanfang da jemals gelingen?

Algernon: Verzweifle nicht, mein lieber Freund, so ausweglos ist es natürlich nicht! Was ich dir aber sagen will, ist, dass du dein Ziel herunterbrechen und klar setzen solltest, bevor du dich ins Neue stürzt. Und wenn du losrennst: verliere nicht den Blick für das, was jenseits deines eingeschlagenen Weges und auch jenseits der Wege liegt, die andere vor dir eingeschlagen haben. Ich spreche aus Erfahrung, wenn ich dir sage, dass sich schon so manch ein Umweg als Abkürzung herausgestellt hat.

Earnest: Du hast gut reden, wo ich noch nicht einmal einen Weg gefunden habe, von dem ich überhaupt abkommen könnte. Seit Monaten, ach was sage ich, Jahren, trete ich auf ein und derselben Stelle.

Algernon: Du irrst, mein lieber Freund. Schon in dieser Erkenntnis liegt dein erster Schritt, und der ist vielleicht der wichtigste. Du bist schon ein ganzes Stück vorangekommen indem du die Lebensentwürfe derer, die du erfolgreich und glücklich schätzt, genutzt hast, um deine eigenen Missstände zu erkennen. Doch solltest du dich vor dem Trugschluss hüten, dass ein Umschlagen auf ihre Wege auch dich zu Erfolg und Glück führen kann. Genauso, wie du den Blick nach links und rechts nicht verlieren darfst, solltest du auch nicht davor zurückschrecken, von Zeit zu Zeit den Blick zurück zu wagen. Einen Moment inne halten, die zurückgelegte Strecke Revue passieren lassen – siehe das niemals als Zeitverschwendung an, sondern als notwendige Pause, um Puste für den restlichen Weg zu holen.

Earnest: Mhmm... (Wird nachdenklich) So habe ich das noch nie betrachtet.

Algernon: Na siehst du, mein lernender Freund. Nun komm, es ist gleich 16 Uhr – wie wäre es, wenn wir gemeinsam einen Tee trinken gingen? In dem kleinen Café um die Ecke haben sie eine wunderbare neue Sorte!

Earnest: Eine gute Idee! Wobei... (Zögert) Ach nein, weißt du was, ich werde jetzt erst einmal meinem Bruder Jack einen Besuch abstatten; es ist schon viel zu lange her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben. Und außerdem hätte ich mal wieder Lust auf eine Limonade?…

www.earnestalgernon.de
www.facebook.com/EarnestAlgernon

Nachgefragt:

FORSYSTEMS: Earnest, nun weißt du, dass du gar nicht so schlecht da stehst, wo du doch deine Situation schon erkannt hast – und weißt du nach deinem Gespräch mit Algernon nun auch, wie du weitermachst?

Earnest: Wenn ich aus dem Gespräch eines gelernt habe, dann dass es für mich erst einmal
gar nicht so sehr ums „weiter“ geht, als vielmehr ums „zurück“. Um die Besinnung zurück auf mich selbst, auf das, was mich ganz grund­-legend antreibt und erfüllt. Und um die Besinnung zurück auf das, was ich wirklich kann. Denn selbst wenn ich herausgefunden habe, was Glück und Erfolg für mich bedeuten, kann der Weg dorthin nur einer sein, der meinen Fähigkeiten entspricht.

FORSYSTEMS: Algernon, der ein oder andere Umweg stellt sich später vielleicht als Abkürzung raus – sollte man lernen, seine Wege generell nicht in Schwarz und Weiß einzuteilen bzw. eine solche Bewertung von anderen für sich zu schnell zu übernehmen?

Algernon: Es kann nie schaden, die Bewertungen anderer im Blick zu halten, doch sollte man sie niemals vorbehaltlos übernehmen. Denn was für den einen schwarz ist, kann für den anderen weiß sein, oder irgendeine Farbstufe dazwischen annehmen. Das Spektrum ist so unendlich, wie die Anzahl der Wege und Ziele, die erfolgreich und glücklich machen können. Und dieses Spektrum will genutzt werden.

FORSYSTEMS: Viele Ratgeber für den besten Weg sind immer schnell zur Stelle – wie geht man am besten damit um? Meist wollen sie ja auch ehrlich helfen, nur ebenso oft betrachten sie Weg und Ziel ausschließlich nach ihren eigenen Maßstäben.

Algernon: Das stimmt, und gerade das sollte man sich zu Nutzen machen. Statt sie als Hilfsmittel zu betrachten, den Weg zu einem bestimmten Ziel zu finden, können sie ganz bewusst als von fremden Maßstäben bestimmte Leitlinien herangezogen werden, um die eigenen Wege und Ziele zu überprüfen und neue, den ganz eigenen Maß­stäben gerechte, zu erfinden. Dafür braucht es aber den Mut, von dem ich sprach: den Mut, auch mal vom Weg abzukommen, den Blick zurück zu richten. Nur so kann man Perspektiven einnehmen, die für die Schaffung eines solchen Bewusstseins und die entsprechende Reflexionsleistung notwendig ist.

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