In fremder Kultur: Earnest & Algernon goes fremd

igenda FACHMAGAZIN
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12.09.2014

Earnest: Algernon, mein lieber Freund, seit Wochen freue ich mich darauf, dich endlich einmal in der Stadt zu besuchen, und nun muss ich mich nur ärgern. London ist ja wirklich noch eindrucksvoller, als du es mir geschildert hast. Aber was bringt mir das schon, wenn ich diese Pracht gar nicht genießen kann! Keine Sekunde hatte ich bisher, mir in dem Trubel auch nur eine Ecke in Ruhe anzuschauen. Du kannst froh sein, dass ich es überhaupt bis zu deiner Wohnungstür geschafft habe: diese rasenden Taxifahrer und überdimensionalen Busse hätten mich ja fast das Leben gekostet – von den verrückten Fahrradfahrern ganz zu schweigen …

Algernon: Mein bester Earnest, wie sehr ich mich freue, dass du da bist! Aber nun beruhige dich erst einmal, du bist ja ganz aufgebracht. Komm rein, setz dich und ich mache uns einen schönen Tee …

Earnest: Pah, einen Tee! (Noch immer außer sich) Den wollte ich mir vorhin auch schon gönnen und wurde aus dem Café – wenn man diese Kaschemme überhaupt so bezeichnen kann – hinausgekehrt, da hatte ich noch nicht einmal drei Schlucke zu mir genommen. „Tut mir leid, aber die nächsten Gäste warten auch schon auf einen Sitzplatz.“ – Tut mir leid?! So unverschämt wurde ich von einer Bedienung noch nie behandelt. Unfassbar, das ist nun im wahrsten Sinne des Wortes wirklich nicht die feine englische Art. Auf dem Lande wäre mir so etwas nie passiert!

Algernon: (Schmunzelt) Ja, das stimmt wohl, auf dem Lande ticken die Uhren noch etwas langsamer. Aber du darfst den etwas raueren Ton der Leute hier nicht falsch verstehen. In einem Londoner Café ist ein Tee nun einmal meistens in drei Schlucken und genauso wenigen Minuten ausgetrunken. Wenn überhaupt, dann sind es die Touristen und vielleicht noch die Studenten, die sich mehr Zeit dafür nehmen. Aber die tummeln sich dann ohnehin eher in den großen Ketten mit Ohrensesseln und Wi-Fi.

Earnest: Nun ja, so wie die das Stadtbild pflastern, ist es ja auch geradezu unmöglich, etwas anderes zu finden. Da lobe ich mir doch mein kleines Frühstückscafé im Dorfe. Keine Hektik, keine ungedul­digen Gäste, keine neumodischen Sessel die auf alt getrimmt sind, ... und erst recht kein Wi-Fi! Auf Bildschirme starren, Emails checken und abgeschottet im Internet surfen, das kann ich doch schließlich auch alleine zuhause.

Algernon: Ich verstehe deinen Frust, mein guter Freund, schließlich ging es mir während meiner ersten Wochen hier ganz ähnlich. Hier in der Stadt herrschen nun einmal andere Gegebenheiten und daran ist auch das Verhalten der Menschen angepasst. Aber du solltest dich nicht so sehr auf deine Perspektive versteifen und alles mit den Maßstäben messen, die für deinen Alltag auf dem Lande gelten.

Earnest: Was heißt denn hier versteifen? Ich weiß beim besten Willen nicht, wie man sich rücksichtslose Verkehrsteilnehmer, unfreundliche Bedienungen und diese Internetabhängigkeit schön reden soll ...

Algernon: Mein treuer Freund, es geht nicht darum, sich diese Dinge schön zu reden, sondern sie von einem anderen Blickwinkel zu betrachten. In einer verkehrsreichen Stadt wie London ist das, was dir rücksichtslos erscheint, einfach das ganz normale Tempo. In einem solchen Umfeld bist du es unter Umständen, der als unaufmerksam oder gar rücksichtslos wahrgenommen wird. Dass du es dir in einem Café gemütlich machst, dessen Besucher normalerweise nur schnell auf dem Weg ihren Tee oder Kaffee zu sich nehmen und gewohnt sind, aufgrund der hohen Fluktuation immer ein Plätzchen zu finden, wirkt dort vielleicht egoistisch. Und dann ist es von der Kellnerin nicht mehr unverschämt, sondern einfach fair gegenüber anderen Gästen, dass sie dich darauf hinweist. Und was dir als eine Abhängigkeit vom Internet erscheint, ist für die meisten Menschen einfach eine Verlagerung des Arbeitsumfeldes aus dem einsamen Büroraum an einen Ort, an dem sich das Leben abspielt und sie – wenn auch indirekt – im Kontakt mit anderen Menschen sind.

Earnest: Hm ... so kann man es natürlich auch betrachten ...

Algernon: Na siehst du, mein lernbereiter Freund. (Lächelt zufrieden)

Earnest: ... Was aber nicht bedeutet, dass ich mich daran anpassen werde!

Algernon: Ach Earnest, das erwartet doch auch niemand von dir. Aber bevor du dich über die Umstände und Gepflogenheiten an einem fremden Ort so echauffierst, solltest du dir zweimal überlegen, worüber du dich eigentlich aufregst – und ob es deinem Gegenüber mit deinem Verhalten nicht umgekehrt genauso geht. Es ist ganz natürlich, dass du die Dinge aus deiner Sichtweise und deinen Gewohnheiten heraus betrachtest und auch entsprechend handelst. Wenn du dich in einer fremden Umgebung zurechtfinden möchtest, solltest du allerdings die Fähigkeit entwickeln und erhalten, davon einen Schritt zurück zu treten und stets versuchen, dich in ungewohnte Perspektiven hineinzuversetzen. Und wer weiß: vielleicht entdeckst du ja dabei doch auch noch den ein oder anderen positiven Aspekt für einen eigenen Alltag.

Earnest: Ja, vielleicht hast du Recht. Wenn ich so drüber nachdenke, war es ja schon herrlich, wie schnell und unkompliziert mich dieser riesige rote Bus bis vor deine Tür gebracht hat. Und was für eine schöne und entspannte Sicht ich dann doch auf die Stadt hatte, als ich es dann endlich ungeschoren auf das obere Deck geschafft hatte ...

Algernon: ... Und ich würde wetten, mein Bester, dass du dir diese schnelle Verbindung in einem der Cafés mit Ohrensessel und Wi-Fi herausgesucht hast ... (Lacht)

Earnest: (Schmunzelt verlegen) Nun, das mag schon sein, mein allwissender Freund ...

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