Vertrauen: Earnest & Algernon goes fremd
Earnest: Algernon, mein treuer Freund, du weißt ja selbst, wie wohl ich mich auf dem Lande fühle – diese Ruhe, die gute Luft, die Schönheit der Natur wohin man nur schaut... das alles macht mich so glücklich!
Algernon: Ich weiß, mein lieber Earnest, es ist schließlich nicht das erste Mal, dass du darüber ins Schwärmen gerätst. Schon oft sprachen wir über die vielen Vorzüge, die das Leben auf dem Land mit sich bringt ... Aber du kennst auch meine Einwände ...
Earnest: Ja, ich kenne Sie, und wenngleich ich dir lange nicht zustimmen wollte, muss ich nun doch einsehen, dass du wie immer Recht hattest. Es wird etwas einsam mit der Zeit, denn tatsächlich zieht es viele meiner Freunde und Bekannten in die Stadt. Dort sei einfach mehr los, sagen sie, es reizt sie das kulturelle Angebot, die Vielzahl von Austauschmöglichkeiten und die Unterschiedlichkeit der Menschen, denen man begegnet. Diese Dinge fehlen ihnen auf dem Land, und Karriere könne man hier auch nicht machen.
Algernon: Nun, damit haben sie sicherlich nicht ganz unrecht; du weißt, ich sehe das ähnlich. Die entscheidende Frage ist allerdings, ob das alles Dinge sind, die DIR fehlen.
Earnest: Nun, je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr sehne ich mich nach einem Wandel in meinem Leben. Ich möchte das Stadtleben einfach einmal ausprobieren – und sei es, um mir darüber bewusst zu werden, wie sehr ich dann vielleicht doch das Leben auf dem Land schätze.
Algernon: Darin kann ich dich nur bestärken, mein neugieriger Freund, und ich wüsste nicht, was deinem Vorhaben im Wege stehen sollte ...
Earnest: Du hast Recht, im Grunde spricht nichts dagegen; nur möchte ich nichts überstürzen, auf meinem Landsitz alles stehen und liegen lassen und mir gleich eine ganze Stadtwohnung einrichten.
Algernon: Aber das musst du doch gar nicht!
Earnest: Ich sehe leider keine Alternative. Mir gleich alles neu und doppelt aufzubauen um dann zwei Haushalte in Stand halten zu müssen ist mir selbst mit dem treusten Personal beim besten Willen zu viel.
Algernon: Das meine ich auch nicht, lieber Freund!
Earnest: (wird neugierig) Was schlägst du dann vor?
Algernon: Nun, wie du weißt ist meine Stadtwohnung sehr großzügig und das Gästezimmer ist sehr selten belegt. Für den Anfang zumindest könntest du dich ja bei mir einmieten und schauen, wie dir das Stadtleben gefällt.
Earnest: (etwas überrascht) Du meinst also wir gründen eine Wohngemeinschaft?
Algernon: Wenn du es so nennen willst – ja, das wäre mein Angebot.
Earnest: Guter Freund, das weiß ich wirklich sehr zu schätzen und würde es mir ganz fabelhaft vorstellen. Aber ich bin unsicher, ob es wirklich eine gute Idee ist. Sicherlich hätte ich zu hohe Erwartungen an unser Zusammenleben. Ich möchte nicht riskieren, dass unsere Freundschaft darunter leidet, dass sie nicht erfüllt werden.
Algernon: In einem Punkt hast du sicherlich recht, mein lieber Earnest: Eine tiefe Freundschaft zu pflegen und in der Lage zu sein, eine gute Wohngemeinschaft zu führen, sind in der Tat zwei verschiedene Dinge. Sicherlich sollten wir uns vorab auf einige Rahmenbedingungen des Zusammenlebens einigen, um Enttäuschungen zu vermeiden. Und dann muss man die ...
Earnest: Hast du denn schon Erfahrungen mit so etwas gemacht?
Algernon: Ja; vor einigen Jahren, als ich mir die Wohnung alleine noch nicht leisten konnte, hatte ich zwei Mitbewohner. Weil die Wohnung damals nicht renoviert war und ich ohnehin keine Dinge von materiellem und nur wenige von persönlichem Wert besaß, war ich bei der Auswahl recht unbedacht. Ich ging nach meinem Bauchgefühl und lag damit goldrichtig. Zwischen meinem ersten Mitbewohner und mir herrschte von der ersten Minute an eine Art Ur-Vertrauen und Einvernehmen, wesentliche Grundregeln unseres Zusammenlebens hatten sich schnell eingependelt.
Earnest: Und wie war es mit dem zweiten?
Algernon: Das war einige Jahre später, ich war beruflich erfolgreich, hatte die Wohnung komplett sanieren lassen, mir edle Möbelstücke gegönnt und mit der Zeit hatte jeder Raum für mich an persönlicher Bedeutung gewonnen. Sie waren mein Zuhause geworden. Aus Sorge, mein erster Mitbewohner sei nicht viel mehr als ein zufälliger Glücksgriff gewesen, konnte und wollte es nicht mehr nur einer Laune, einem Gefühl überlassen, mit wem ich diese Wohnung teilen sollte.
Earnest: (gespannt lauschend) Und was hast du dann gemacht?
Algernon: Ich habe versucht, meine Entscheidung nach rationalen Kriterien zu treffen – Beruf, Alter, Hobbies, Herkunft, etc. – und habe darüber mein Bauchgefühl vollkommen vernachlässigt, ja gar verdrängt.
Earnest: (immer neugieriger) Und wie ist mit dem zweiten Mitbewohner gegangen?
Algernon: Nun, auch wir hatten uns schnell auf grundlegende Regeln geeinigt, doch haben sich zwischen uns nie die Herzlichkeit und Selbstverständlichkeit etabliert, die zwischen meinem ersten Mitbewohner und mir herrschten. Alles musste explizit und genau vereinbart werden, damit es funktionierte und trotzdem hatte ich ständig das Gefühl, die banalsten Dinge doppelt und dreifach kontrollieren zu müssen. Es störten mich viele Charakterzüge und Kleinigkeiten, die ich nicht einmal zu begründen oder in Worte zu fassen vermochte. Gleichzeitig mangelte es an dem Vertrauen in eine gewisse Unerschütterlichkeit, die jede Wohngemeinschaft wie auch Freundschaft braucht, damit Unannehmlichkeiten und Probleme offen angesprochen werden können. So kam es, dass wir uns beide immer mehr zurückzogen, uns immer weniger austauschten und sich ein gegenseitiges Misstrauen breitmachte.
Earnest: Das kann ich mir bei dir überhaupt nicht vorstellen! Bei unseren Gesprächen nimmst du schließlich nie auch nur ein Blatt vor den Mund, ganz gleich, wie sehr sich unsere Ansichten – zumindest auf den ersten Blick – auch widersprechen!
Algernon: (lacht) Ja, mein treuer Freund, und das liegt ganz wesentlich an dem Grundvertrauen, das ich von Anfang an in dich und in unsere Freundschaft hatte und das sich über die vielen Jahre verfestigt hat. Wir mögen uns in sehr vielen Dingen – ebenden rationalen Dingen wie Herkunft, Beruf etc. – unterscheiden, doch weiß ich, dass wir uns in den ganz wesentlichen Dingen stets einig sind und wertschätzen, was dem jeweils anderem wichtig ist. So würde ich bei dir beispielsweise auch niemals die geradezu protektionistischen Tendenzen entwickeln, die ich bei meinem letzten Mitbewohner ohne Zweifel hatte, wenn es um die Möbel- und Wertgegenstände in der Wohnung ging.
Earnest: Aber warum denn auch, ich kenne ja die Geschichte hinter nahezu jedem einzelnen Staubkorn in deiner Wohnung und weiß, wie sehr dir all die Dinge am Herzen liegen ...
Algernon: ... Und auch das weißt du nur, weil ich dir bedingungslos vertraue und diese großenteils sehr persönlichen Geschichten mit dir teile.
Earnest: Deine Worte ehren und freuen mich sehr, lieber Algernon. Trotzdem beantworten Sie mir nicht die Frage, ob eine Wohngemeinschaft nicht vielleicht unsere Freundschaft gefährden könnte.
Algernon: Lieber Freund, es scheint mir, als seist du kurz davor, den gleichen Fehler zu begehen, den ich damals bei der Wahl meines zweiten Mitbewohners beging: vor lauter Bemühungen, etwas dir teuer und lieb gewordenes zu bewahren und schützen – unsere Freundschaft, so wie ich die mir damals meine Wohnung – versuchst du, Entscheidungen abzusichern, die von irrationalen und nur schwer messbaren Faktoren beeinflusst werden. Du sagst selbst, du würdest dir unsere Wohngemeinschaft ganz fabelhaft vorstellen. Also lass es doch, genauso wie das Leben in der Stadt, einfach drauf ankommen.
Earnest: (wird nachdenklich) Vielleicht hast du recht ... Ich vertraue deinem Rat, darauf konnte ich mich auch bislang immer verlassen.
Algernon: Das hoffe ich; und sollte ich falsch liegen, so können wir die Wohngemeinschaft ja jederzeit wieder auflösen und gemeinsam nach einer Alternative für dich suchen ...
Earnest: Das stimmt – solange sich unsere Freundschaft dann nicht mit auflöst ... (zwinkert)
Algernon: (lacht gelassen) Gerade weil wir darauf vertrauen können, dass das nicht passiert, können wir es ja drauf ankommen lassen!